Ein Jahr im Bundestag

27. Oktober 2010 | Ott's Blogs | 
Heute bin ich ein Jahr Abgeordneter im Deutschen Bundestag – so schnell kann’s gehen. Gewählt bin ich schon etwas länger, seit dem 27. September. Doch erst am 27. Oktober fand die erste Sitzung des neuen Bundestages statt und dies ist auch der Stichtag für den Status als „MdB“ (Mitglied des Bundestages). In den Wochen zwischen der Wahl und der konstituierenden Sitzung hat man eine sog. „Anwartschaft“ ... aber o.k., das führt jetzt zu weit!   Zeit für eine kleine Bilanz.

„Ist es so wie Du es erwartet hast?“ – das ist so eine der am häufigsten gestellten Fragen. „Jein“ oder „ja und nein“ ist darauf immer die richtige Antwort und die will ich auch hier geben. Ich hatte vor meinem Entschluss in die Politik zu gehen mit vielen Leuten gesprochen, mit solchen im Bundestag, mit ehemaligen MdBs, mit professionellen Beobachtern und mit Leuten aus der Zivilgesellschaft – und immer mit der gleichen Frage: Was sind die Möglichkeiten und was sind die Grenzen der Arbeit im Bundestag?

 Darauf gibt es natürlich auch nach einem Jahr keine endgültige Antwort. Deshalb an dieser Stelle erstmal ein vorläufiger Befund: Ja, ich habe den Eindruck dass ich über den Bundestag den Klimaschutz und ein paar andere für mich wichtige Themen voranbringen kann. Was man so in der Opposition eben machen kann („O. ist Mist“ wenn man einem bekannten früheren SPD-Politiker glauben darf...).

 Die größte Überraschung des letzten Jahres war vielleicht exakt diese: Dass es doch so viele Überraschungen gab. Hatten mir meine GesprächspartnerInnen doch einen recht realistischen Eindruck von der Arbeit des MdBs vermittelt – dachte ich. Pustekuchen!

Überraschung 1: Die hohe Arbeitsbelastung, ich hatte schon darüber berichtet. Vor allem wenn man seinen Job einigermaßen ernst nimmt ist die zeitliche Belastung enorm. Im Normalfall bin ich schon froh wenn ich alle Gesetzesanträge und sonstigen Vorlagen (Entschließungsanträge, kleine Anfragen etc.) aus meinem eigenen Arbeitsbereich lesen und verarbeiten kann. Für die Vorlagen aus anderen „AKs“ also den fraktionsinternen Arbeitskreisen, bleibt oft nicht genügend Zeit und Energie. Das kann zu unangenehmen Überraschungen führen, wenn man erst kurz vor der entscheidenden Fraktionssitzung Kenntnis erhält und dann Entscheidungen mittragen muss die man eigentlich anders entscheiden würde – oder zumindest gerne kontrovers diskutiert hätte. Das ist nicht gut, entspricht auch nicht dem Ideal des Parlamentariers. Dazu später mehr.

Überraschung 2: Das hohe intellektuelle Niveau. Von außen bekommt man ja immer wieder vermittelt dass das Niveau im Bundestag vielleicht nicht besonders herausragend sei. Doch muss differenziert werden: Natürlich werden die Themen nicht so tief durchdrungen wie man das aus der Wissenschaft kennt. Aber die Fülle des Materials sorgt dafür (zumindest für diejenigen mit einem gewissen Anspruch an eine fundierte Entscheidungsfindung) dass es nicht langweilig wird. Das Wissen geht mehr in die Breite als in die Tiefe, aber auch das ist nicht ohne. Richtig „Doofe“ wird man deshalb im Bundestag auch selten finden oder sie halten sich nicht lange.

 Überraschung 3: Der hohe Wettbewerbsdruck. Es konkurrieren die Abgeordneten eines Themenbereiches in derselben Fraktion untereinander ebenso wie alle Abgeordneten innerhalb der Fraktion. Es konkurrieren natürlich auch die Abgeordneten verschiedener Fraktionen miteinander. Und alle konkurrieren um die knappe Ressource „Medienzugang“. Das ist ein Gerangel wie beim Sommerschlussverkauf. Und dabei schreien alle ganz laut dass sie zu kurz kommen und das ist ja meistens nicht einmal übertrieben! Denn alle fühlen sich auch als würden sie zu kurz kommen. Das gilt nicht nur für die „Hinterbänkler“ (die wir bei den GRÜNEN ja gar nicht haben) sondern dieses Gefühl des „zu kurz Kommens“ zieht sich bis in die höchsten Etagen. Und kann dann natürlich dazu führen dass gewisse Anstandsregeln oder Regeln des kooperativen Umgangs miteinander im Gewühle permanent unter die Räder kommen. Politik, zumindest auf diesem Niveau, ist nichts für Leute mit schwachen Nerven.

 Überraschung 4: Wie der Wechsel im persönlichen Umfeld wahrgenommen wird. Wenn im Normalfall man/frau einen beruflichen Wechsel vornimmt, dann wird das mehr oder weniger interessiert zur Kenntnis genommen und dann wird zur Tagesordnung übergegangen. Nicht so beim Wechsel in die Politik. Die gängigen Reaktionen reichen von „...das ist gut, ich habe Dich da immer schon gesehen, mach was draus“, „...wow, endlich mal einer von uns der Karriere macht!“ über „...sprichst Du jetzt überhaupt noch mit mir?“ bis zu „...iiiihh, bist Du jetzt auch einer von DENEN!“ und „...ach, wolltest Du noch was für Deine Rente tun?“. Über die Reaktionen kann man sicherlich geteilter Meinung sein und darüber werde ich auch noch schreiben. Aber eines ist unübersehbar: Der Gang in die Politik wird als eine entscheidende Veränderung wahrgenommen, und er polarisiert. Politik ist nicht „normal“.

Und zum Schluss meine größte Überraschung Nr.5: Die persönlichen, inneren Umstellungen die erforderlich sind, sowohl beim Wertesystem als auch im eigenen Verhalten. Dieses Phänomen gilt vermutlich für jeden Wechsel aus einem beruflichen Umfeld in ein anderes. Doch mag der politische Betrieb aufgrund des hohen kompetitiven Umfelds und der starken öffentlichen Anteilnahme diesen Effekt noch verstärken.

Dieser Wandel will gelernt und erfahren werden. Sich zu verändern ohne sich zu verbiegen. Sich zu ändern um sich treu zu bleiben. In diesem Sinne auch die Antwort von John Podesta, langjähriger Berater von Bill Clinton und Barack Obama und jetzt Leiter des progressiven think tanks „Center for American Progress“ auf meine Frage was einen guten Politiker auszeichne. Er überlegte ziemlich lange für einen alten Polithasen und sagte dann: „Authentizität“. Das ist die Kunst.