Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben ein Sondervotum zum Gesamtbericht der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" eingebracht. Sie legen dar, welche Ergebnisse der Kommission gemeinsam getragen werden, welche Unterschiede die beiden Fraktionen in ihrer Positionierung zum Mehrheitsbericht erkennen und wie die Debatte weitergeführt werden kann. Hier können Sie das Sondervotum herunterladen:
Wir befinden uns in einer Zeit von multiplen Krisen: die globale Finanzkrise dauert an, Umwelt- und Ressourcenverbrauch nehmen ungebremst zu, die Klimakrise spitzt sich zu, die Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich verschärft sich. Eine Krisenbekämpfung allein durch mehr Wirtschaftswachstum ist keine Option, denn dieses geht immer mit einem steigenden Umwelt- und Ressourcenverbrauch einher und löst die nationalen und globalen Verteilungskonflikte nur unzureichend.
Die Krisenvielfalt und die damit verbundene Wachstumsfrage war Anlass für die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD zu Beginn der 17. Wahlperiode die Einsetzung einer „Wachstumsenquete“ zu fordern. Denn dies ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts: Den Umgang mit der Natur auf eine Weise zu regeln, die ein gutes Leben für alle Menschen auf der Erde ermöglicht ohne die Grundlagen unserer Zivilisation zu zerstören. Darunter fällt auch die soziale Sicherheit zu gewährleisten und die politischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft gestärkt, eine ressourceneffiziente Wirtschaftsweise gefördert und die Stabilität unserer Demokratie gestärkt wird. Ziel war es aufzuzeigen, wie eine sozial-ökologische Transformation gelingen kann. Dazu gehört ein ressourcenarmes Wirtschaften und Lösungsansätze, wie wir alle an der Gesellschaft und am Wohlstand teilhaben können. Wichtig war uns auch, das Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Wohlstand und Lebensqualität kritisch zu hinterfragen. Wohlstandsmessung muss auch ökologische und soziale Dimensionen abbilden. Damit können die Auswirkungen von politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen in allen Dimensionen transparent gemacht werden.
Bündnis 90/Die Grünen und die SPD haben im Herbst 2010 gemeinsam die Initiative ergriffen und konnten schließlich auch die Fraktionen [1] der CDU/CSU und FDP zu einem gemeinsamen Einsetzungsantrag für eine „Enquete Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ [2] bewegen. Die Einsetzung der Kommission war eine große Chance. Fraktionsübergreifend mit der Unterstützung von Sachverständigen aus Wissenschaft, Unternehmen und Zivilgesellschaft sollten zukunftsweisende Fragen konsensorientiert bearbeitet und dem Deutschen Bundestag Empfehlungen gegeben werden.
In der Analyse der zu bearbeitenden Themen wie Entkopplung von Wirtschaften und Ressourcenverbrauch, Regulierung der Finanzmärkte, zukünftige Lebensstile und neue Formen der Arbeit konnten wesentliche Erkenntnisse gemeinsam fraktionsübergreifend erarbeitet werden:
Für die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD stand in dieser Enquete nicht die Frage nach „Wachstum oder Schrumpfung“ im Vordergrund, sondern die Debatte um die Art unseres Wirtschaftens und Lebens innerhalb der Grenzen unseres Planeten. In der Kommission und parallel in der gesellschaftlichen Debatte hat sich gezeigt, dass das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes nachwievor als alleiniger wesentlicher Maßstab und Indikator gewertet wird. Wachstum wird durch diese „Überhöhung“ zu einer Art Fetisch. Diesem Verständnis wird vielfach mit einem Anti-Fetisch, nämlich dem Ruf nach wirtschaftlicher Schrumpfung, begegnet. Doch das ist weder effektiv (da symbolisch) noch konstruktiv. Es fördert lediglich den ideologischen Streit. Denn das BIP ist nur ein Ergebnis der Wertorientierung und Zielentscheidung der Gesellschaft. Entscheidet sich eine Gesellschaft zum Beispiel für eine Verlagerung von bezahlten Tätigkeiten zu unbezahlten Tätigkeiten (Sorgearbeit, Ehrenamt) ist gar nicht absehbar, wie sich das BIP entwickelt. Was wir benötigen, sind praktische Antworten, wie wir mit weniger Ressourcen und neuen Formen der Arbeit die Teilhabe an Wohlstand und Lebensqualität für alle ermöglichen – national und global.
Die Ergebnisse der Enquete nach zwei Jahren Beratungszeit werden deshalb von den Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD in vielen Bereichen als nicht ausreichend angesehen. Dies hat zu ergänzenden und alternativen Sondervoten in den einzelnen Berichtsteilen geführt, vielfach im Konsens mit den Oppositionsfraktionen, auf die wir uns im Folgenden auch beziehen. Denn die Handlungsempfehlungen des Mehrheitsberichtes verharren vielfach in den alten Lösungsmustern. Wachstum wird immer noch als Lösungsweg für Verteilungsfragen, aber auch für ökologische Herausforderungen gesehen. Dass uneingeschränktes Wachstum aber Teil des Problems ist, wurde nur unzureichend erörtert. Die eigentliche Herausforderung an die Gesamtenquete wurde nicht bearbeitet: wie organisiere ich eine Wirtschaft und Gesellschaft ohne das Primat eines exponentiellen, ressourcenverbrauchenden ökonomischen Wachstums.
Der Enquetebericht zeigt in aller Deutlichkeit die vielfache Überschreitung von ökologischen und auch von sozialen Grenzen auf. Ein Paradigmenwechsel ist deshalb erforderlich - unser gegenwärtiges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell ist nicht zukunftsfähig. Die Koalition geht von einem graduellen Wandel innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung aus. Die Opposition spricht sich weitergehend für eine sozial-ökologische Transformation [3] von Marktwirtschaft und Gesellschaft im Sinne eines „Pfadwechsels für einen neuen Wohlstand“ aus.
Bei allem politischen Handeln, aber vor allem bei der Umsetzung einer Transformation gilt: Politik, die Beteiligung ermöglichen möchte, muss immer auch Sozialpolitik sein. Nur wer Zugriff auf Bildung im umfassenden Sinne hat, kann seine Umwelt selbstbestimmt gestalten. Und nur wer ein existenzsicherndes Einkommen hat und frei von Diskriminierung lebt, hat Zeit und Selbstvertrauen, um auf sein Umfeld Einfluss zu nehmen. Die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD betrachten deshalb Sozial- und Umweltpolitik als zusammengehörend.
In den einzelnen Projektgruppen und deren Berichten kristallisierten sich für die Opposition folgende Positionen heraus, die im Gegensatz zum Mehrheitsbericht stehen:
In der Indikatorenfrage haben die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD verschiedene Auffassungen. Daher im folgenden die Darstellung der beiden unterschiedlichen Modelle.
SPD: Mehrheitlich beschlossener Indikatorensatz
Dem materiellen Wohlstand wurden die Aspekte Soziales und Teilhabe sowie Ökologie an die Seite gestellt, die insgesamt aus zehn Leitindikatoren bestehen. Materieller Wohlstand wird durch BIP, Einkommensverteilung und Staatsschulden gemessen; Der Bereich Soziales und Teilhabe wird durch die Messung von Beschäftigung, Bildung, Gesundheit und Freiheit dargestellt; Die Ökologische Dimension wird anhand des nationalen Treibhausgasausstoßes, des Stickstoffüberschusses und der Artenvielfalt beschrieben. Diese Leitindikatoren werden mit sogenannte ergänzenden Warnlampen im Hintergrund unterfüttert, welche nur sichtbar werden, wenn sich gravierende Änderungen ergeben.
Die Mehrheit der Enquete-Kommission empfiehlt dem Deutschen Bundestag damit einhergehende Handlungsempfehlungen. Die wichtigsten sind:
Darüber hinaus sollten die Indikatoren in wirksamer Weise der Öffentlichkeit vorgestellt und zur Kenntnis gegeben werden.
Position von Bündnis 90/Die Grünen: Grüner Wohlstandskompass
Die Enquete Kommission hatte einen breiten Auftrag, der angesichts der Kürze der Enquete-Laufzeit von etwas über zwei Jahren eine große Herausforderung darstellte. Eine der Kernfragen des Einsetzungsauftrages blieb unbeantwortet: die Frage nach Wachstumszwängen und Wachstumstreibern. Wir befinden uns immer noch in einem ungelösten Wachstumsdilemma. Sinkt das Wirtschaftswachstum sinken die Verteilungsspielräume, mehr Menschen sind von Arbeitslosigkeit bedroht, den Sozialversicherungen brechen Einnahmen weg. Wächst die Wirtschaft, steigt damit auch der Ressourcenverbrauch und die ökologische Krise spitzt sich zu. Eine Lösung dieses Dilemmas wird ansatzweise beschrieben, verdient jedoch eine deutlich weitergehende Untersuchung. Dies ist ein Auftrag nicht nur an die Wirtschaftswissenschaften, sondern an alle Disziplinen: ein Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu entwickeln, dass ohne Aufzehren unserer natürlichen Grundlagen ein selbstbestimmtes Leben für alle Menschen auf der Erde ermöglicht.
Die Themen globale Gerechtigkeit sowie Geschlechtergerechtigkeit wurden nur am Rande beleuchtet. Alternative Entwicklungsansätze aus Lateinamerika wie „Buen Vivir – Recht auf gutes Leben“ oder auch das in Bhutan erhobene Bruttosozialglück wurden nicht stärker in den Blick genommen. Auch die Frage von gerechtem Zugang zu Ressourcen für alle Menschen wurde ignoriert. Eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit feministischen Theorieansätzen und ein Gendermainstreaming aller Bereiche des Berichtes hat nicht stattgefunden. Ein weiterer Schwachpunkt in der Arbeit der Enquete Kommission war die nur unzureichende Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Anhörungen wurden fast ausschließlich mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Wissenschaft oder aus großen Verbänden durchgeführt. Der Diskurs wurde darüber hinaus sehr einseitig aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Sicht geführt und vernachlässigte interdisziplinäre Zugänge. Gerade auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es aber eine Vielzahl von Bewegungen und konkreten Projekten, die eine Abhängigkeit vom Wachstum überwinden.
Die aktuelle Krise in einigen europäischen Ländern zeigt eindrucksvoll, dass Zeiten des Nichtwachstums heute eine gesellschaftliche Katastrophe darstellen. Das ist einer der systemimmanenten Gründe, warum wir die Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum analysieren und Alternativen aufzeigen müssen. Den eindrücklichsten Grund liefert jedoch der Zustand unseres Planeten Erde, denn eine intakte Umwelt mag für viele nicht Alles bedeuten – aber ohne sie ist doch alles Nichts. Denn längst geht es nicht mehr nur darum, der Natur ihren Raum zu lassen und die Schönheit der Erde zu bewahren. Die Auswirkungen des Menschen auf die Systeme unseres Planeten hat längst eine Dimension angenommen (Stichwort „Anthropozän“), in der die Lebensgrundlagen unserer Zivilisation in ernste Gefahr geraten.
Die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD haben mit der Enquete Kommission das Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ erstmals im Parlament verankert. Die Arbeit der Enquete Kommission ist damit jedoch nicht abgeschlossen. In einem ersten Schritt werden sich die Fraktionen dafür einsetzen, dass die erzielten Ergebnisse und Vorschläge der Enquete Kommission in der kommenden Legislaturperiode in konkrete Gesetzgebung umgesetzt werden. Weiterhin besteht in vielen Bereichen erheblicher Forschungsbedarf, der in den einzelnen Berichtsteilen herausgearbeitet wurde. [11] Die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD werden sich für die Übernahme der Fragestellungen in die Forschungsprogramme des Bundes einsetzen. Auch da noch viele Fragen hinsichtlich der Zielsetzung der Enquete nicht abschließend behandelt werden konnten und ein wesentliches Ziel – Lösungen aufzuzeigen für ein Leben und Wirtschaften innerhalb der ökologischen Grenzen – noch nicht erreicht wurde, müssen sie im Parlament in geeigneter Form dauerhaft weiterdiskutiert und weiterentwickelt werden.
Neben der parlamentarischen Verantwortung wollen die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD die zivilgesellschaftliche, außerparlamentarische, Debatte intensiver fördern und begleiten. Denn schon jetzt gibt es viele Bürgerinnen und Bürger, die durch ihren Lebensstil vielversprechende Ansätze eines Wohlstands jenseits des Wachstumszwangs aufzeigen. Sozial-ökologischer Wandel ist eine kulturelle Leistung, die Politik ermöglichen muss. Deshalb setzen sich beide Fraktionen für einen weiterführenden breiten Dialog mit Akteuren der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und der Wirtschaft ein – auch auf europäischer und globaler Ebene. Denn das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation erfordert eine erheblich stärkere Verschränkung von Politik und Gesellschaft.
[1] Aufgrund der generellen Weigerung der CDU/CSU kam es zu keinem gemeinsamen Antrag mit der Fraktion DIE LINKE.
[2] Siehe Einsetzungsantrag der Enquete Kommission, Deutscher Bundestag Drucksache 17/3853.
[3] Vgl. Sondervoten der Opposition zu „Sozial-Ökologischen Transformation“ im PG 3 Bericht Kapitel D 7.1.3. und zu „Große Transformation – Karl Polanyi heute“ im Kapitel D 7.1.4.
[4] Vgl. Bericht der Opposition „Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft“ in Projektgruppe 1, Kapitel B.
[5] Vgl. Sondervotum der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum PG 2 Bericht „Wohlstandskompass“, Kapitel C 3.
[6] Vgl. Sondervoten der Opposition vor allem zu „Sozial-Ökologischen Transformation“ im PG 3 Bericht Kapitel D 7.1.3.und zu „Handlungsempfehlungen“ mit über 50 Einzelmaßnahmen, Kapitel D 7.2.5.
[7] Vgl. Sondervotum der Opposition „Globale Probleme – globale Regulierung“ im PG 3 Bericht Kapitel D 7.1.2.
[8] Vgl. Sondervoten der Opposition in den einzelnen Berichtsteilen: im Finanzmarkt Bericht zu „Weitergehende antizyklische und makroprudenzielle Instrumente“ in Kapitel E 2.3.2, zu „Weitergehende Maßnahmen für mehr Transparenz und Kontrolle“ in Kapitel E 2.3.4 und zu „Weitergehende Maßnahmen zur Regulierung der Vergütungssysteme“ in Kapitel E 2.3.5; im Bereich Finanzpolitik Bericht zu „Wege einer zukünftigen Finanzpolitik – weitere Maßnahmen und Fazit“, Kapitel E 3.5 und Kapitel E 3.6., Oppositionsbericht zu Ordnungspolitik im Kapitel E.
[9] Vgl. Sondervotum der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Eine Reform des Emissionshandels ist unverzichtbar“, PG 3 Bericht Kapitel D 7.2.2 und Sondervotum der Opposition zu „Handlungsempfehlungen“, PG 3 Bericht Kapitel D 7.2.5.
[10] Zum Bildungsbereich vgl. Oppositionsbericht der PG 1, Kapitel B 4.2.2
[11] Vgl. vor allem Forschungsbedarf im Bericht der PG 5 bezüglich Arbeit, Konsum und Lebensstile und Nachhaltigkeit in Kapitel F 4.6, im Bericht der PG 3 in Kapitel D 7.3. und ausführlich im Sondervotum der Opposition „Weitergehender Forschungsbedarf“ in Kapitel D 7.3.