Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau
Die Entscheidung der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union hat den verbreiteten Glauben erschüttert dass „sich am Ende schon alles fügen werde“, dass der geschichtliche Zug – zumindest in Europa! – unbeirrt in Richtung Offenheit und Toleranz fährt – dass, platt gesagt, am Ende schon ‚das Gute‘ siegen werde. Irrtum. Der Kampf für die richtige Politik muss immer wieder von Neuem aufgenommen und geführt werden.
Es kann sein dass sich das Gezerre um die Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU noch eine Weile hinzieht und eine Vertiefung der Integration weiter behindert. Dabei braucht die Europäische Union dringend mehr Integration, nicht weniger! Mehr Partizipation, mehr Demokratie und mehr gemeinsame Politik. Die Unklarheit der Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und EU-Ebene hat zu einer Art ‚organisierter Verantwortungslosigkeit‘ geführt – die von den Bürgerinnen und Bürgern auch bemerkt wird und einiges mit der aktuellen Politikfrustration zu tun hat. Was also sollte, jenseits der Entflechtungsverhandlungen, das Ziel europäischer Politik sein?
Europa braucht ein neues Projekt. Nachdem der Gründungsimpuls, nämlich der Bann der Kriegsgefahr auf dem europäischen Kontinent, seine Dringlichkeit verloren hatte, ist die europäische Idee zu einem neo-liberalen Marktprojekt verkommen.
Nur noch ökonomische Effizienz das Ziel, ein Markt ohne Grenzen zum Wohle der Mega-Maschine ‚Wirtschaft‘ die Vision. Was dabei auf der Strecke blieb ist die Gerechtigkeit und die Solidarität. Doch mit einem kalten, technokratischen Herz lässt sich eine Europäische Union nicht erbauen! Wenn es nicht gelingt, die Solidarität mit allen Bürgerinnen und Bürgern der EU in den Köpfen und Herzen der Menschen (und der Regierungen) zu verankern, dann ist die Union es auch nicht wert, verteidigt zu werden. Deshalb braucht es ein neues Projekt – jenseits der (alten) Friedenspolitik und jenseits der Mehrung des Bruttosozialprodukts.
Es gibt ein solches Projekt von höchster Relevanz für den Fortbestand unserer Zivilisation: Die Bewältigung der Klima- und Ressourcenkrise, die ja auch eine soziale Krise und eine Krise der Werte ist (so Papst Franziskus). Unsere begrenzte blaue Erde ist für die unendlichen Wachstumsphantasien unserer Ökonomen nicht geeignet, das hat nicht zuletzt die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 2013 festgestellt. Solange wir nicht auf ferne Planeten ausweichen können, ist es von vitalem Interesse, unsere Wirtschaft so zu gestalten, dass unsere Lebensgrundlagen nicht vernichtet werden.
Dazu gehört ein stabiles Klima, dazu gehören intakte Ozeane, Flüsse und Wälder. Und dazu gehört, jenseits der Ökologie, auch eine Wirtschaft die sich vom Raubbau an den erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen verabschiedet. Das Programm dazu nennt sich der ‚ökologisch-soziale Umbau‘ unserer Wirtschaft: Es soll eine Wirtschaft ‚erfunden‘ werden die im Einklang mit den großen ökologischen Erdsystemen funktioniert. Und die auf einen sozialen Ausgleich hin ausgerichtet ist. Der Aufbau einer solidarischen Wirtschaft, einer Wirtschaft die auf gleichberechtige Teilhabe aller Menschen (und anderer Geschöpfe) zielt, verdient höchste Priorität.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die EU in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle bei dem Ziel eingenommen, eine Wirtschaft zu ‚erfinden‘ die das Klima weniger schädigt – ohne dass die Menschen darunter gelitten hätten. Doch die Rückschläge waren enorm, es sei nur darauf verwiesen, in welchem Maße die Autoindustrie wirksame Maßnahmen zum Benzinsparen aufweichen konnte. Aber vor allem hat sich die Europäische Union nicht von dem Wahn verabschiedet, mit „grünem Wachstum“ alle Probleme auf technischer Ebene lösen zu können. Das ist ein fataler Irrtum. Der auch immer dazu führt, dass die Verteilungsfrage nicht mehr gestellt werden muss – weil ja der wachsende Wohlstand in Europa ,automatisch‘ dafür sorgen soll dass alle ein besseres Leben haben. . .
Es ist an der Zeit, diese Illusion zu durchbrechen und alles dafür zu tun, um die ökologisch-soziale Wende in den nächsten Jahrzehnten zu schaffen. Die Herausforderung ist enorm – alle Infrastrukturen müssen auf eine extrem energie- und ressourcenschonende (Kreislauf-)Wirtschaft umgestellt werden: die Energieversorgung selbst natürlich, dazu unsere Transportsysteme, die Industrie, die Haushalte und nicht zu vergessen die Landwirtschaft. Das erfordert neue Technologien (ohne die wird es nicht gehen), aber vor allem neue Werte, soziale Innovationen und viel Kreativität.
Viele Menschen in Europa wollen das, vor allem die Jungen – vor allem diejenigen also, die für einen Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt haben. Dieses Projekt würde der Union einen neuen und stichhaltigen Sinn geben, es würde alle verfügbaren Kräfte erfordern – und dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt. Denn nur freie und selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger sind in der Lage, ein solches Projekt zu stemmen. Nur eine Politik, die den Menschen dient, wird auch eine stärkere Integration der Union gelingen lassen und ein Scheitern dieses einzigartigen Menschheitsprojekts verhindern. Mit einem neuen, ökologisch-sozialen Friedensprojekt für das 21. Jahrhundert.
Dr. Hermann E. Ott ist Wissenschaftler und Politikberater, er war 2009 bis 2013 Mitglied im Deutschen Bundestag für die Grünen und dort Teil der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Er ist leitender Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie.